Kollektivschuld. Das ist natürlich blanker Unsinn, sofern es impliziert, die Gemeinschaft der Deutschen habe ein gemeinsames Bewußtsein, einen gemeinsamen Willen, eine gemeinsame Handlungsinitiative besessen und sei darin schuldhaft geworden. Es ist aber eine brauchbare Hypothese, wenn man nichts anderes darunter versteht als die objektiv manifest gewordene Summe individuellen Schuldverhaltens. Dann wird aus der Schuld jeweils einzelner Deutscher – Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld – die Gesamtschuld eines Volkes. Der Begriff der Kollektivschuld ist vor seiner Anwendung zu entmythisieren und zu entmystifizieren. So verliert er den dunklen, schicksalhaften Klang und wird zu dem, als das er allein zu etwas nütze ist: zu einer vage statistischen Aussage. Vage statistisch, sage ich, denn es fehlen präzise Angaben, und niemand kann feststellen, wieviele Deutsche die Verbrechen des Nationalsozialismus erkannten, billigten, selbst begingen oder in ohnmächtigem Widerwillen in ihrem Namen durchgehen ließen. Doch hat von uns Opfern jeder seine eigene, wenn auch nur approximative und ziffernmäßig nicht ausdrückbare statistische Erfahrung gemacht, denn wir lebten ja – in der Illegalität unter deutscher Besatzung im Ausland, in Deutschland selber, arbeitend in Fabriken oder gefangen in Kerkern und Lagern – in den entscheidenden Jahren mitten im deutschen Volke. Darum durfte und darf ich sagen, es seien mir die Verbrechen des Regimes als kollektive Taten des Volkes bewußt geworden. Jene, die im Dritten Reich aus dem Dritten Reich ausgebrochen waren, sei es auch nur schweigend, durch einen bösen Blick nach dem SS-Rapportführer Rakas, durch ein mitleidiges Lächeln für uns, durch ein schambezeugendes Niederschlagen der Augen — sie waren nicht zahlreich genug, in meiner ziffernlosen Statistik den rettenden Ausschlag zu geben.
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Die braven Männer, die ich so gerne gerettet hätte, sind schon ertrunken in der Masse der Gleichgültigen, der Hämischen und Schnöden, der Megären, alten fetten und jungen hübschen, der Autoritätsberauschten, die da glaubten, mit unseresgleichen anders als grob befehlend zu reden sei nicht nur ein Verbrechen gegen den Staat, sondern gegen ihr eigenes Ich. Die vielzuvielen waren keine SS-Männer, sondern Arbeiter, Kartothekführer, Techniker, Tippfräuleins – und nur eine Minderheit unter ihnen trug das Parteiabzeichen. Sie waren, nehmt alles nur in allem, für mich das deutsche Volk. Was um sie und mit uns geschah, das wußten sie genau, denn sie schmeckten wie wir den Brandgeruch vom nahen Vernichtungslager, und manche trugen Kleider, die man erst gestern an den Selektionsrampen den ankommenden Opfern abgenommen hatte. Ein wackerer Arbeiter, der Montagemeister Pfeiffer, zeigte sich mir einmal stolz in einem Wintermantel, einem „Judenmantel”, wie er sagte, den er in seiner Tüchtigkeit sich hatte verschaffen können. Sie fanden, es sei alles in rechter Ordnung und sie hätten, des bin ich bis zur Erstarrung gewiß, für Hitler und seine Komplizen gestimmt, wären sie damals, 1943, an Wahlurnen getreten. Arbeiter, Kleinbürger, Akademiker, Bayern, Saarländer, Sachsen: da war kein Unterschied. Das Opfer mußte, es wollte dies oder nicht, glauben, daß Hitler wirklich das deutsche Volk sei.
– Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne (via)