[Das Folgende habe ich in wenigen Tagen geschrieben, und es ist auch schon was älter. Wie immer verweise ich gerne darauf, daß es trotz seiner *hust* Schwächen durchaus informativ sein kann.]
1. Einleitung
Das Werk des österreichischen Autors Thomas Bernhard gibt seinen Interpreten auch nach Jahrzehnten ergiebiger Forschungsliteratur immer noch Rätsel auf. Zwischen den ‘Österreichbeschimpfungen’ und komplexen Auseinandersetzungen mit Philosophen von Schopenhauer bis Wittgenstein bietet es Ansatzmöglichkeiten für eine Vielzahl an Deutungen, “weil divergente […] Interpretationsinteressen daran herangetragen wurden”, auch im gesellschafts-theoretischen Bereich, in dem sich die vorliegende Arbeit bewegen wird.
Eine Nähe oder wenigstens eine poetische Korrespondenz zu Werken der Konservativen Revolution hat man Bernhard bislang nicht nachgewiesen. Zu überzogen schienen die apodiktischen Urteile von Bernhards Figuren, als daß sich dahinter eine “dezidiert politische” Meinung, die sich nicht auf einen Holocaustkommentar beschränkt oder sich lediglich in rüden Beschimpfungen erschöpft, verbergen könnte.
Genau diese Nähe jedoch wird die vorliegende Arbeit nachweisen. Es gilt zu zeigen, daß Bernhards Texten eine klare Position abzulesen ist, die mit dem schlichten Urteil ‘Kulturpessimismus’ nicht zu fassen ist. Vielmehr scheint diese Position, die sich im Laufe seines Werkes immer weiter verästelt und verfeinert, gut mit Kategorien der sogenannten Konservativen Revolution erklärbar zu sein.
Es wird der vorliegenden Arbeit mehr um eine Darstellung von Bernhards Text und seinen Argumenten zu tun sein, als um eine Diskussion des Begriffs ‘Konservative Revolution’. Aus diesem Grund wird auf lediglich zwei Texte dieser Bewegung Bezug genommen. Hofmannsthals “Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation” sowie Borchardts “Schöpferische Restauration” dienen als programmatische Schriften für das, was im folgenden unter dem Begriff der Konservativen Revolution gefasst wird..
Nach einer kurzen Darstellung der beiden Texte folgt eine Untersuchung zweier Bernhardscher Romane unter den erarbeiteten Gesichtspunkten. Diese Texte sind sein erster Roman, Frost, und sein letzter, Auslöschung. Es wird sich zeigen, daß Bernhards Werk sich von einer umfassenden Kulturkritik hin zu einer Untersuchung der Möglichkeiten einer Restauration bewegt, die Visionen der Konservativen Revolution, wie sie Hofmannsthal und Borchardt verstanden, fest im Blick.
2. Die Konservative Revolution
2.1. Die Textauswahl
Hermann Rudolph schreibt:: “Der Begriff der Konservativen Revolution ist zwar nicht von Hofmannsthal geprägt worden, sein Plädoyer für ihn in der Rede ‘Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation’ scheint aber nicht unwesentlich zu seiner Fixierung im Bewußtsein der Öffentlichkeit beigetragen zu haben”. Nun ist es nicht im Interesse der vorliegenden Arbeit, Definitionen des Begriffs der Konservativen Revolution gegeneinander abzuwägen, sich gar auf das Gebiet der soziologisch-politischen Untersuchung zu begeben. Hofmannsthals Rede scheint den Geist jener politischen Bewegung getroffen zu haben, dieser Umstand, sowie der hohe Grad an Erwähnungen dieses Textes im Rahmen von Diskussionen der Konservativen Revolution, sprechen für eine Verwendung der Rede.
Es ist jedoch nicht ausreichend, die Analyse Bernhardschen Konservativismus allein auf Hofmannsthals Rede zu stützen, schon aufgrund ihrer wenig spezifischen Diskussion des Kritisierten, ihre “formelhaften Wendungen ließen viele Möglichkeiten der Interpretation und der Realisierung offen”. Als eine Ergänzung bietet sich Rudolf Borchardts Rede zur “Schöpferischen Restauration” an, da ihre Kritik an der deutschen Gesellschaft weit konkreter ausfällt, Borchardt sich in ihr eindeutiger festlegt und sie somit hilfreicher im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist.
Die Borchardtsche Rede hat zwar nicht denselben Bekanntheitsgrad wie die Hofmannsthalsche, jedoch ist sie geeignet, um die vielen dunklen Ecken von Hofmannsthals poetisch überladenem Text auszuleuchten, da Borchardt sich auf Details des von Hofmannsthal skizzierten Programms “eine[r] konservative[n] Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt”, einläßt. Im folgenden werden kurz zentrale Punkte der beiden Reden referiert, um den Boden für die Lektüre von Frost zu bereiten.
2.2. “Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation”
Diese Rede, “eine Art Zusammenfassung seines Weltbildes”, hielt Hofmannsthal zwei Jahre vor seinem Tod und ein Jahr vor Borchardts Rede. Wie später Borchardt das 18. Jahrhundert als Parallele zu seiner Gegenwart konstruiert, so beschäftigt sich Hofmannsthal in seiner Rede zunächst mit dem, was die französische Kultur der deutschen voraus hat.
Der wichtigste Vorteil der Franzosen scheint nun nach Hofmannsthal zu sein, daß sie über eine “reine Sprache” verfügen, mit deren Hilfe sie den in der deutschen Kultur allgegenwärtigen “Riß […] zwischen Gebildeten und Ungebildeten” überwinden können. In der Sprache “redet Vergangenes zu uns, […] wir ahnen dahinter ein Etwas waltend”, nämlich “den Geist der Nationen”. Es handelt sich hierbei nicht um gesprochene Sprache, sondern um Schrifttum, “Aufzeichnungen aller Art”.
Die Deutschen sind zwar nach Hofmannsthal beherrscht von den sogenannten Bildungsphilistern, aber auch unter ihnen regt sich Widerstand. “Das geistige Gewissen der Nation”, sind die Suchenden, “Träger […] dieser produktiven Anarchie”, was die genaueste Beschreibung der Konservativen Revolution ist, die man im Text finden kann. Zentral in der Bewegung der Suchenden sind verschiedene Führergestalten, die außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehen. Gleichwohl ist nicht Individualismus, sondern Einheit der Leitgedanke von Hofmannsthals Vision: “[a]lle Zweiteilungen […] sind im Geiste zu überwinden […]; alles im äußeren Zerklüftete muß […] dort in eines gedichtet werden, damit außen Einheit werde.”
“Hofmannsthal sagt nirgends klar und eindeutig, was er unter konservativer Revolution versteht.” Dafür muss erst Borchardt kommen, mit seiner Eloge auf die Romantik und seiner Verdammung des modernen Menschen in seiner Rede zur schöpferischen Restauration.
2.3. “Schöpferische Restauration”
Borchardt entwickelte die Idee der schöpferischen Restauration als Teil einer Redekampagne. So hat sie auch, anders als die etwas zerfahrene Vorgängerrede Hugo von Hofmannsthals, eine ausgeklügelte rhetorische Struktur, die sich des Hauptstilmittels der Analogie bedient.
Ohne Umschweife erklärt Borchardt früh, wem seine Sympathien gehören und wen es anzugreifen gilt. Auf der einen Seite sind die “Schöpfer, Begeisterer und Former” der Romantik, und auf der anderen Seite sorgt das restliche 18. Jahrhundert für die “Unterjochung dessen, was noch Philosophie heißen kann”. In seine ausführliche, beißende Kritik an den Entartungen, die dieses Jahrhundert hervorgebracht habe, streut Borchardt wiederholt Analogien, so daß die Zuhörer seine Anmerkungen auf ihre eigene Zeit anwenden. Er macht klar, daß bloße Ideen diesen Zustand, damals wie heute, nicht ändern können, dazu wäre eine “Schöpfergestalt” vonnöten, ganz im Sinne von Hofmannsthals “Suchenden”.
Borchardt betont stärker als Hofmannsthal die herausragende Rolle der Romantiker im gemeinsamen Geschichtsbild. Seine Romantiker sind nicht nur Suchende, sie sind jene, die einst fanden, wonach heute gesucht wird. Sie haben erkannt, woran es der Welt mangelt, sie hatten Teil an “der klaren, der siegreichen, der seherischen Erkenntnis”. Jedoch, Erkenntnis ist nach Borchardt eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für den Wechsel.
Erst die “politische Katastrophe der Welt” habe damals die Welt in einen Zustand versetzt, in dem sie bereit für einen Wechsel gewesen sei. Aber die Welt habe ihre Chance nicht genutzt, trotz der Romantiker und ihres weltweiten Einflusses hätten sich entscheidende Entwicklungen “erst nach der Schicksalsstunde und schon in der Stunde verfallenden Rechtes” eingestellt.
Diese Analyse ist der entscheidende Teil der Rede. Was folgt, ist eine harte Kritik am modernen Massenmenschen: “[d]er historische Begriff des Volkes ist zersprungen [und] durch den der neuen Massen ersetzt”. Der moderne Mensch ist nun “auf der Pöbelstufe”. Borchardt bietet nun, da erneut ein Krieg die Weichen für eine Veränderung gestellt hat, seine Idee der schöpferischen Restauration an, und zwar “nicht als Reaktion […], sondern, wenn […] das Wort Revolution hier bedenklich klingt, als eine Reformation an Haupt und Gliedern”. Zu den Maßnahmen dieser Reform gehört eine Stärkung des Nationenbegriffs zuungunsten des Volksbegriffs und ein Aufspüren des Urdeutschen in dem, was heute noch deutsche Kultur und Sprache ist.
3. Frost
3.1. Der Pöbel
Thomas Bernhards Erstlingsroman Frost fasst bereits alle kritischen Einwände in Bernhards Werk gegen die Moderne zusammen, die sich später in anderen Formen in seinem übrigen Texten wiederfinden lassen. Der Protagonist, der Maler Strauch, sagt dem ihn beobachtenden Famulanten mit, wie dieser die Welt zu verstehen habe. Das Bild, das Strauch von der Welt zeichnet, ist düster. Wie viele der frühen Romane Bernhards ist auch Frost auf dem Land angesiedelt. Die Städte in Bernhards späterem Werk, darunter Salzburg, Wien und Rom, sind hier noch ferne Orte. Besonders deutlich wird dies in Frost, da keiner der beiden Protagonisten ursprünglich aus der Ortschaft Weng stammt, in welcher der Roman spielt. Mit dem Betreten von Weng betritt der junge Student gleichzeitig die dunkle Welt von Strauch, seine Aussage, Weng sei “der düsterste Ort” den er “jemals gesehen habe” (F 10), könnte sich genauso auf Strauchs Inneres beziehen, schließlich steht Strauchs sich stetig verschlimmernde Krankheit “in korrelativer Beziehung zu dem Auflösungsprozeß in Weng”.
Weng löst sich tatsächlich auf, und zwar ist nicht die Natur die Ursache, obwohl auch der Wald “von einer eigentümlichen Bedrohlichkeit gekennzeichnet ist”, vielmehr ist es die moderne Welt, die den Ort in Besitz genommen hat. Weng, das doch eigentlich in einer ländlichen Gegend liegt, ist bevölkert vom Proletariat, das “im Laufe von drei Jahrzehnten ins Tal hereingeschwemmt worden ist” (F 109). Die auf diese Weise neu zusammengesetzte Bevölkerung ist krank, “[d]as Tal ist berüchtigt wegen seiner Tuberkulosefälle” (F 149). “Die Bäuerlichen” (F 109) werden nach und nach verdrängt von dem Proletariat, das mit der modernen Industrie ins Tal kommt, welche die Krankheit mit sich bringt. Die Tuberkulose nämlich “scheint mit den Abwässern der Zellulosefabrik zusammenzuhängen” (F 149), eines der drei Industriemerkmale in der Gegend neben dem Kraftwerk (vgl. F 214f.) und der Eisenbahn.
In der Trennung, die zwischen den Bauern und dem Proletariat verläuft, befindet sich ein deutlicher Anklang an Borchardts Pöbel einerseits und seine Trauer um das verlorene “Volk der Romantik” andererseits. Die Macht des Pöbels nimmt in Weng zu, die Bauern, die mit dem Katholizismus identifiziert werden, haben “ausgespielt”, denn der “Kommunismus schreitet weit aus. In ein paar Jahren gibt es nur noch den Kommunismus. Und Bauerntum ist dann nur noch ein Traum.” (F 109)
3.2. Träumen
Der eigentliche Traum aber hinter der gehässigen Wengbeschimpfung des Malers, die auch auf den Famulanten abfärbt, ist der einer “vorindustrielle[n] aristokratische[n] Utopie[]”, etwas, das überdeutlich wird, wenn Strauch von den “Herrenhäusern[n] und Schlösser[n]” (F 230) schwärmt. Diese sind nicht eindeutig als Nachtträume erkennbar, zumindest werden sie vom Maler als wahrhaftig beschrieben, jedoch geschieht dies in einem von Paradoxa übervollen Monolog. Zudem hat Gößling mit Recht darauf hingewiesen, daß die Mitteilungen des Malers, die nicht vom Protokoll führenden Famulanten überprüft sind, “den inhaltlich auf diesem lastenden Wahnverdacht” erhärten.
Träume schaffen im Träumenden eine zweite Wirklichkeit, was in Frost für Nachträume wie für Visionen gleichermaßen gilt, “[i]nnen ist jetzt der andere Schauplatz, und er stimmt mit dem Schauplatz draußen nicht überein”. In wenigen Bernhardschen Werken sind der Traum und der Wahnsinn so präsent wie in Frost und die Tatsache, daß sich Strauch diesen Dingen aussetzt, kann gelesen werden als “Resultat eines Denkens, das an das äußerst Mögliche gehen will […] im Interesse der Präzision”, wenn man das Hofmannsthalsche Diktum in Betracht zieht, daß “[a]lle Zweiteilungen […] im Geiste zu überwinden” sind. Strauchs Anspruch ist eben ein solcher Hofmannsthalscher, am Rand des Möglichen, ein Denken bzw. eine Sprache, in der es “keine Irrtümer” gibt und ” der Zufall und das Böse […] ausgeschlossen” sind (F 230). Es ist “alles unerfüllbar” (F 30) und doch muß man Strauchs Bemühungen lesen als ein Versuch, durch möglichst starke Verdichtung und Präzision, “bis in die höchsten Vorstellungen der Verfeinerung hinauf” (F 82), sein Ziel der inneren Einheit zu erreichen.
3.3. Das Alleinsein
Ob Strauch nun aber wirklich ein “synthesesuchender Geist” im Sinne Hofmannsthals ist, ist nicht abschließend zu klären. Der Traum bietet eine alternative Lesart des Wahns und Antriebs der Figur Strauch an. Da der Traum, den Strauch versteht als “den Eintritt in das höhere Staunen” (F 269), bei Bernhard fungiert als “das subversive Potential, die anarchische Dimension”, schließt er sich nahtlos an Hofmannsthals Diskussion des geistigen Gewissens der Nation an, das “Spannungen und Beklemmungen hervorruft”. Strauch, obwohl er vielleicht nicht der ersehnte Führer ist, versucht doch, die innere und äußere Einigung zu erzwingen, die Entindividuation, die am Ende der Konservativen Revolution stehen soll. “Die erhoffte Entindividuation soll durch ein Höchstmaß […] an Individuation verwirklicht werden. Von dieser wird erwartet, daß sie auf eine mystische Art und Weise in jene umspringt”.
Die Individuation des Malers vollzieht sich in Frost mittels des Alleinseins, des “Eingeschlossenseins in sich selbst” (F 29). Er muß Mitteilungen aus sich lösen, “er reißt die Worte aus sich heraus wie aus einem Sumpfboden” (F 137). Dies ist gleichzeitig, neben einer Denkmethode, ein Selbstschutz gegen die feindliche Umwelt. Eine ähnliche Doppelfunktion findet sich auch in dem titelgebenden Frost. “Der Frost frißt alles auf” (F 247), “[p]lötzlich ist es so kalt, daß einem die Stirnhöhle einfrieren kann” (F 246) und andererseits ist die “Kälte […] der scharfsinnigste Zustand”, der “im Hirn den Verstandesklöppel anschlagen läßt” (F 247). Die Kälte, die auch sinnbildlich für ein versagendes, da bewegungsloses Gesellschaftssystem ist, das wir in der Ordnung von Wolfsegg wiederfinden werden.
Strauch scheitert, er findet keine Antwort, und wenn “der Geist keine Antwort zu finden vermag, übernimmt […] der Körper für den Menschen die Antwort”. Strauch versagt in seinem Vorhaben und sein Körper versagt mit ihm. Nicht, weil durch seinen Einsatz sich die Welt oder doch wenigstens Weng nicht verändert hätte, sondern weil er niemandem ein Führer, das heißt: Lehrer war. Gegen Ende formuliert er es so: “der Eintritt in das höhere Staunen, wissen Sie, und ganz allein” (F 269). Seinen Gesprächspartner, der sich in der Sprache wiederfindet als ‘Sie’, kann er nicht in seine Traumwelt mitnehmen.
3.4. Sprache und Ordnung
Der Famulant schließt seinen Bericht mit den knappen Worten: “[a]m Abend des gleichen Tages beendete ich meine Famulatur und reiste zurück in die Hauptstadt, wo ich mein Studium fortsetzte.” (F 316). Als sei nichts gewesen, fährt der Student in seinem Tagewerk fort. Jedoch hat, still und heimlich, eine enorme Veränderung statt gefunden. Aus den Worten, dem “bloßen Verständigungsmittel” wurde durch des Famulanten Tagebuchaufzeichnungen, die, zusammen mit ein paar Briefen, den Roman Frost konstituieren, echtes Schrifttum. Wenn Kritiker wie Huntemann die Tagebuchform als “Reflex [einer] schreibskeptischen Einsicht” begreifen, so ist ihnen unbedingt zu wiedersprechen, drückt doch die Fixierung in Schrift Vertrauen in eben jene aus. Durch die Schrift kann der Famulant, der sich Strauch “ausgeliefert” (F 304) fühlt, genug Distanz aufbauen, um den Maler als “Wortfetzen und verschobene Satzgefüge” (F 214) begreifen zu können.
“Was fange ich mit seiner Sprache an?” (F 137) fragt sich der Famulant, weit entfernt davon, sich tatsächlich Strauchs “Herzmuskelsprache” (F 137) auszuliefern. Statt dessen bildet er von außen jenes Strauchsche Denken nach, das, wie hier bereits festgestellt, ein nach innen gekehrtes ist, mithilfe der Schrift als Ordnungssystem der Sprache. Sie als solche zu begreifen, bietet sich an in einem Text, in dem nicht die Zerstörung von Natur beklagt wird, sondern eben die Zerstörung von Kultur, von von Menschenhand geschaffener Ordnung, die von Strauch wiederholt als Utopie beschrieben wird: “ein Park […] der unendlich sei, […] eine Schönheit, ein kunstvoller Einfall reihe sich in diesem Park an den anderen.” (F 82). Wenn Hofmannsthal in bezug auf die Konservative Revolution verkündet, “[i]hr Ziel ist Form”, so kommt das den Strauchschen Vorstellungen schon sehr nahe. Aber anders als bei Hofmannsthal und Borchardt ist in Frost kein Prozeß über den sprachlichen hinaus zu sehen. “Der Maler redet und ich höre zu” (F 225), diese “Urszene der Bernhardschen Gesprächskunst” hat hier noch keine Auswirkung.
Sie hat aber wenigstens erkenntnisfördernde Funktion, denn durch die Sprache, die “der Konstruktion des Denkens, dem Ausdruck als Denksystem”dient, merkt der Student als Hörer dieser Sprache, daß die Sprache, aus dem tiefsten Innern “in die Welt, in die Menschen hinein” (F 137) führt und bestätigt somit das Ausmaß der Strauchschen Innerlichkeit. Die Sprache des Malers ist die komprimierte “Worttransfusion” (F 137), die für den in der Welt stehenden Famulanten zusammenhangslos scheint, aber auf den zweiten Blick “ungeheure Zusammenhänge” (F 137) hat, nur eben im Maler.
Der Sprachschwall, der nur in eine Richtung erfolgt, fordert den Famulanten heraus, der ihm zunächst keine Ordnung zu geben vermag. Erst später ist er imstande Bericht zu erstatten (vgl. F 309f.). Durch diesen ‘Erfolg’ wird in Frost eine Gegenüberstellung von redendem und schreibendem Subjekt konstruiert, mithilfe derer eine weitere Dimension des Strauchschen Versagens offenkundig wird, Strauch vermag eben gerade nicht, aufzuschreiben, Bericht zu erstatten, er muß stets aufhören “nach dem dritten oder vierten Wort” (F 316). Hofmannsthals Diktum, daß nur in der Schrift “[a]lles Höhere, des Merkens würdige” überliefert werde, hinterlässt seine Spuren im Versagen von Strauch. Der lehrende Protagonist der Auslöschung ist hingegen auch ein Schreiber.
4. Auslöschung
4.1. Wolfsegg
Franz-Josef Murau, der Erbe von Wolfsegg, verschenkt diesen “gigantische[n] Besitzklumpen” (Aus 37), nach der Beerdigung seiner Eltern. Als Privatlehrer von Gambetti, einem jungen italienischen Mann aus gutsituierter Familie, verdient er gut, ließ sich aber immer finanziell von seinen Eltern unter die Arme greifen. Der Grund für sein Handeln kann also kaum finanzielle Unabhängigkeit sein. Einer der vielen möglichen Gründe liegt in der Konstitution von Wolfsegg. “Murau […] ist gleichzeitig ein Teil und ein Opfer von Wolfsegg. Er ist daher unfähig zu erben”. Wolfsegg, wie Weng in Frost, ist mehr als ein Ort, mehr als Wald, Schloß und Felder. Es ist eine “Kindheitslandschaft” (Aus 599), in der nicht nur die Kindheit Muraus abgebildet ist, sondern vielmehr auch die ‘Kindheit’ des modernen österreichischen Staates. Wolfsegg ist konstruiert aus verschiedenen widerstreitenden Elementen. Erstens die “sogenannte Kindervilla” (Aus 184), in der ein Kindertheater untergebracht ist, ihr Gegenstück ist das Haupthaus von Wolfsegg, der Ort der Erwachsenen, wo sich das Familienleben “mehr oder weniger abspielt” (Aus 183). In Nachbarschaft zur Kindervilla befinden sich die anderen beiden, einander als Gegensätze präsentierten Häuser, das Jägerhaus und das Gärtnerhaus.
“Die Jäger waren niemals meine Freunde gewesen” (Aus 185) schreibt Murau, und nicht zufällig klingt in diesem Satz ein kindlicher Ton nach. Denn nahezu alle Wolfseggerinnerungen Muraus verbindet dieser mit der Kindheit oder der frühen Jugend. Als Erwachsener erfährt Murau daß seine Eltern nach dem zweiten Weltkrieg “ihre nationalsozialistischen Gesinnungsgenossen”, Nationalsozialisten hohen Ranges, in eben der “geliebte[n] Kindervilla” (Aus 184) versteckt hatten. Die Jäger “waren die Faschisten” (Aus 192), sagt Murau später zu seinem Schüler Gambetti, aber es bleibt ungeklärt, wie in weiten Teilen des restlichen Romans, wieviel er tatsächlich erinnert und wieviel sich in seiner Erinnerung sich verändert hat, da eine objektivierende Instanz, wie sie der Famulant in Frost wenigstens ansatzweise darstellte, völlig entfällt.
Auf der anderen Seite stehen die Gärtner, die Murau, damals wie später, lobend unter die “einfachen und ungekünstelten” Menschen zählt. Als Kind ging er gerne und oft zu den Gärtnern, “die ich liebte” (Aus 257), wie Murau schreibt. Die Gärtner sind eng verbunden mit der Natur, mit einem restaurierenden natürlichen Kreislauf, nicht wie die Jäger, die auf alles schießen, das ihnen vor die Flinte kommt und seien es unbescholtene Bürger (vgl. Aus 192). “Die Gärtner in Wolfsegg” hingegen “hatten immer eine heilsame Wirkung ausgeübt” (Aus 334). So ist es im Rahmen der Konstruktion von Auslöschung nicht überraschend, daß Murau darauf besteht, daß wenigstens einer der drei Särge von den Gärtnern getragen werden soll (vgl. Aus 412f.).
Die Gärtner sind “die reinen Menschen” (Aus 334), eine Formulierung, die wirkt, als habe Murau in ihnen das Volk der Romantik wiedergefunden, und tatsächlich redet er, kaum daß er in Wolfsegg ankommt, zuerst mit diesen Gärtnern. Sie sind die “die natürlichsten” (Aus 399), in einer Umgebung, die von Ritualen und “eine[r] unerträgliche[n] Künstlichkeit” (Aus 108) dominiert ist. Während in Frost weite Teile des Romans im Wald stattfinden, bei Spaziergängen durch die steifgefrorene Natur, sind in der Auslöschung, soweit es Wolfsegg betrifft, die Räume entscheidend, die vier Häuser, die eben beschrieben wurden, aber “[d]er Raum zwingt zum Ritual […] Jeder Versuch, gegen diese Ordnung aufzubegehren, wird bestraft”. Murau, als Kind in Wolfsegg, steht unter Dauerbeobachtung in diesen Räumen, alles, was er seinen Eltern sagt, kann als mögliche Lüge aufgefasst werden, besonders schwierig scheinen die mit der Bibliothek zusammenhängenden Belange zu sein. Auch wenn Murau schwört, “zum Lesezweck” (Aus 259) in einer der fünf Bibliotheken gewesen zu sein, wird er der Lüge bezichtigt, man unterstellt ihm, er sei dort seinen “abwegigen Gedanken” (Aus 259) nachgegangen, ohne daß die Natur jener Gedanken je spezifiziert wird.
4.2. Das geheime Denken
Gedanken, Bücher, Ideen sind gefährlich in Wolfsegg, es gibt dort Kästen, in denen “[d]ie Voltaire und Montaigne und Descartes […] ein für allemal versiegelt sein” (Aus 147) sollten, Kästen, die Muraus Onkel Georg, das enfant terrible der Familie, einmal geöffnet hatte und die nach Onkel Georgs Abreise und Umzug nach Cannes, “an dieser Teufelsküste” (Aus 148) wieder fest verschlossen wurden, “sie hatten dabei die Schlüssel nicht nur einmal, sondern gleich zwei- und dreimal umgedreht” (Aus 148f.). Denken scheint gefährlich zu sein, und “[d]as geheimgehaltene Denken ist das entscheidende” (Aus 161).
Dieser letzte Punkt scheint mir ein in der Bernhardforschung unterschätzter zu sein, das Denken muß nicht geheimgehalten werden, weil die Gedanken inhaltlich gefährlich sind, oder weil Denken überhaupt eine gefährliche Tätigkeit ist, deren Ausübung man dann natürlich verbergen müßte. Es geht im Gegenteil darum, nicht zu verraten, daß unser Kopf “vollkommen leer” (Aus 160) ist, das kommt ab und zu vor, und dann empfinden wir “einen solchen fürchterlichen Schmerz, daß wir nur fortwährend aufschreien müssten” (Aus 160), was man tunlichst vermeiden sollte, denn das würde “das Ende bedeuten” (Aus 160). Es ist also die Leere, die das geheime Denken darstellt, das Verzweifeln. Das macht auch Sinn im Zusammenhang mit den Attacken der Familie gegen Muraus Bibliotheksaufenthalte, denn nie wird er bestraft für das Lesen indizierter Bücher, man vermutet vielmehr dunkle Beweggründe. Diese könnten durchaus das Nichtdenken sein.
Eine weitere Verbindung ergibt sich hier zu Frost. Nachdem er seine Unfähigkeit erklärt hat, einen kohärenten Text zu Papier zu bringen, beschreibt der Maler Strauch einen “unvorstellbare[n] Schmerz” (F 316), der von seinem Kopf ausgeht. Es ist in der Auslöschung genau die umgekehrte Problemlage. Murau vermag sehr wohl zu schreiben, die auch in der Auslöschung vorhandenen Dialoge dienen zur Erzeugung einer “Mündlichkeitsfiktion, wie sie nur im Medium der Schrift möglich ist”. Durch die an den Anfang und an das Ende gesetzten “schreibt Murau” wird der Schriftcharakter der Murauschen Monologe weiter forciert. Wenn also Murau, der nirgends von derartigen Schmerzen an seinem eigenen Körper berichtet, einen ähnlichen Schmerz beschreibt wie Strauch, könnte man daraus, geht man von einem Werkkontinuum bei Bernhard aus, auf eine weitere Abwertung der Strauchschen Geistesleistung sprechen, denn das leere Blatt und der leere Kopf wiedersprechen sich womöglich nicht unbedingt.
4.3. Auslöschung
Ganz so einfach aber sieht es nicht aus in der Auslöschung. Eva Marquard weist mit Recht darauf hin, daß der Text der Auslöschung gar nicht von Murau geschrieben ist, “sein schriftlich abgefasster Text mit dem Titel ‘Auslöschung’ wird lediglich mitgeteilt”, ohne daß es Informationen gibt, wer der Herausgeber, beziehungsweise der Erzähler ist, ob das Manuskript tatsächlich den Titel ‘Auslöschung’ trägt und welchen Umfang es tatsächlich hat, denn diesbezüglich gibt es weder Informationen noch Markierungen irgendeiner Art im Text. Das Projekt der Auslöschung, das Murau wiederholt ankündigt, wird so aus dem Text herausgetragen, auch durch den Trick, daß Murau Gambetti aufträgt, “Amras von Thomas Bernhard” (Aus 7f.) zu lesen, nun ist es aber “keine fiktive Tatsache, sondern eine tatsächliche, daß […] Bernhard diesen Text geschrieben hat, Auslöschung bezieht sich damit explizit auf die textexterne Wirklichkeit”. Das Projekt der Auslöschung bekommt damit auch Gewicht außerhalb der narrativen Struktur von Auslöschung, eine Voraussetzung, damit es als gesellschaftstheoretisches Konzept im Rahmen der Konservativen Revolution angemessen diskutiert werden kann.
Zunächst einmal bezeichnet Muraus Konzept der Auslöschung seine Rebellion gegen den “Herkunftskomplex” (Aus 201), gegen die lebenslängliche Auseinandersetzung mit den immergleichen Themen. Es ist ein autobiographisches Projekt, nur daß er in diesem Bericht, den er Auslöschung zu nennen gedenkt, “alles” auslöscht, seine “ganze Familie wird in ihm ausgelöscht ihre Zeit wird darin ausgelöscht, Wolfsegg wird ausgelöscht in meinem Bericht” (Aus 201).
Es ist hier nicht wörtlich seine Familie gemeint, oder ihre ‘Zeit’, es handelt sich mehr um das, was seine Familie repräsentiert, “die infame Provinzhölle” (Aus 295). Die Wolfsegger Ordnung ist starr, dort sitzen die Bildungsphilister, die kein Interesse an gesellschaftlicher Bewegung haben. Wenn also Murau behauptet, “Wolfsegg […] auseinanderzunehmen und zu zersetzen” (Aus 296), obwohl er eigentlich Wolfsegg für den Leser überhaupt erst erschafft, dann kann seine “Geistesarbeit” (Aus 613) sich nur gegen diese Ordnung, die “etablierten Strukturen” richten, die nicht eine überkommene ist, sondern nur eine zu starre. Die Wolfsegger sind nicht bereit, “in ihre fürchterlichen Geschichtsabgründe hinein und hinunter” (Aus 17) zu schauen, es mußte erst Onkel Georg kommen, um den jungen Murau “auf den Gegenweg” (Aus 147) zu bringen. Die Tatsache, daß es um eine Besinnung auf die alten, jahrhundertelang missachteten Bücher in den Bibliotheken geht, um eine rückwärtsgewandte Geschichtsbetrachtung, legt nahe, daß es sich beim Projekt der Auslöschung tatsächlich um ein Projekt im Geiste der Konservativen Revolution handelt. Murau blickt nicht in die Zukunft, ohne gleichzeitig in die Vergangenheit zu blicken.
4.4. Restauration und Konservierung
4.4.1. Restauration in Wolfsegg
Murau hat genaue Vorstellungen, was er in Wolfsegg erreichen will, als er dort ankommt. Im wesentlichen handelt es sich hierbei um zwei Dinge. “Es wird mein erstes sein, […] in Wolfsegg den eingesperrten bösen Geist [die eingesperrten Bücher; M.I.] auszulassen, […] und die Bücherkästentüren werde ich […] weit auflassen für immer” (Aus 150), ein Vorgang, bei dem Murau offenbar trachtet, Vergangenes wiederzubeleben, um damit wiederum die Gegenwart zu beleben, “die Geschichte des deutschen Geistes […] wieder erbau[en], bewahr[en]”. Diese Geschichte sucht er “in den alten Büchern, auf den alten Stichen” (Aus 115).
Sylvia Kaufmann hat überzeugend nachgewiesen, daß Muraus Buchpräferenz “reinstates the Romantic antagonism of artist and philistine”, so daß auch die verhandelten Bücher selber eine Verbindung zu Borchardts “seherischer Erkenntnis” herstellen. Den Ahnen, denen er nachspürt in den fünf Bibliotheken, fühlt er sich verbundener als den Philistern seiner Gegenwart, “sie hatten ein naturgemäßes Bedürfnis nach Geist und Denken” (Aus 263) lobt er und schwärmt: “Was waren das für Zeiten” (Aus 263). Nach einem ähnlichen Prinzip suchte er sich seinen Wohnort Rom aus: “für den Kopf des Altertums ist Rom die ideale Stadt gewesen, für den heutigen Kopf ist es wieder die ideale” (Aus 207). Seine Ahnenverehrung treibt er sogar soweit, daß er in einem obskuren Portrait den Familienphilosophen zu erkennen glaubt, an “diese[m] charakteristische[n] Descartesbart und [der] hochgezogene[n] Descartesbraue” (Aus 360), dessen Existenz nur gerüchteweise bestätigt ist.
Das zweite Projekt, das er sich in Angriff zu nehmen vornimmt, ist die Restaurierung der Kindervilla, die “vor rund zweihundert Jahren in der Art gebaut worden [ist] in der Art der florentinischen Villen” (Aus 184).. Dieser Bezug nach Italien ist gleichzeitig, im Kontext der antiken Figur Rom, wie oben dargestellt, zu lesen als zeitlicher Rückbezug. Zum einen in die Antike, und zum anderen, auf der expliziten Ebene, um 200 Jahre zurück, zur Zeit der Habsburger, kurz vor dem Verfall des KuK.
4.4.2. Habsburg
Zwar wird die glorreiche österreichische Vergangenheit selten explizit thematisiert in der Auslöschung, dennoch ist der Schatten des “habsburgischen Mythos'” immer zu spüren, nicht zuletzt durch den vielsagenden Vornamen des Protagonisten, Franz-Josef, der zwangläufig solche Assoziationen auslöst. “Der Untergang der Monarchie wirkt bis heute traumatisch nach” in der österreichischen Literatur und in Bernhards Werk besonders deutlich. Bei einer näheren Betrachtung ist die Angst vor dem dräuenden Kommunismus in Frost übersetzbar in die Angst vor einer der Monarchie radikal entgegengesetzten Gesellschaftsform.
Dennoch ist sich Murau in der Auslöschung nicht zu schade, eine wiederholte, mehrseitige Katholizismusbeschimpfung zu unternehmen, deren erste Beschimpfungswelle in der Behauptung gipfelt: “[w]ie kein anderes Volk hat sich das unsere von der katholischen Kirche ausnützen lassen” (Aus 146) und deren zweiter den Ausdruck “unser nationalsozialistisch-katholisches Volk” (Aus 444) enthält. Der Katholizismus ist aber in der Auslöschung nicht mit der habsburger Zeit assoziiert, sondern mit der starren faschistoiden Ordnung von Wolfsegg, denn “gegen den Katholizismus,” das “bedeutete […] gegen alles” (Aus 147.).
4.4.3. Literatur und Sprache
Zuletzt bleibt die Frage des Umgangs mit den literarischen Traditionen. In Hofmannsthals Rede wurde der schlechte Umgang mit dem “nationalen Besitz”, das heißt, Kulturbesitz beklagt. Man ehre “die wahren großen deutschen Epiker” nicht in ausreichendem Maße. Besonders auffällig sei es im Falle von Goethe, zu dessen Werk es keinen Konsens gebe. Scheinbar reiht sich auch Murau in jene von Hofmannsthal kritisierten ein, die Goethe nicht als Teil der Tradition begreifen oder sogar diese Tradition, und Goethe mit ihr schlicht verwerfen, Goethe, “den Gesteinsnumerierer, den Sterndeuter, den philosophischen Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt hat in ihre Haushaltsgläser” (Aus 575).
Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich jedoch diese Goethebeschimpfung als ein Angriff auf die Goethepietät des Bildungsphilisters im Sinne Hofmannsthals, der die “nicht ganz angenehme[] Goethevertraulichkeit der Philologen und [die] Goethepietät der Einzelnen” kritisierte. Die Attacke Muraus gilt nicht Goethe, dem großen Dichter, sondern Goethe, dem “philosophischen Kleinbürger”, der “den Kopf in den deutschen Schrebergarten gesteckt hat” (Aus 575). Nicht die Tradition wird angegriffen, sondern der falsche, starre, geistig unbewegliche Umgang mit ihr. Murau, der die Gedichte seiner Lieblingsdichterin Maria “immer geliebt hat” (Aus 511), erklärt, diese hätten “den Wert der Goetheschen Gedichte, die [er] am höchsten einschätzt” (Aus 512). Es geht um ein tieferes Verständnis von Literatur, das sich auch in seinem Selbstverständnis als Schriftsteller widerspiegelt: er sieht in sich “nur ein[en] Vermittler von Literatur”, “[e]ine Art literarischer Realitätenvermittler” (Aus 615).
“Das Werk ja, habe ich zu Gambetti gesagt, aber seinen Erzeuger, nein” (Aus 616), schreibt Murau und setzt damit eine wichtige Trennung. Der Text geht ein in die literarisch-kulturelle Tradition, sei der Autor auch noch so gefangen in seiner Gegenwart. Eine ähnliche Trennung in der Betrachtung findet statt, wenn Murau feststellt: “die deutschen Wörter hängen wie Bleigewichte an der deutschen Sprache […] und drücken […] den Geist auf eine diesem Geist schädliche Ebene” (Aus 8). Nation heißt für Borchardt “wie in Urzeiten und allen Zeiten mit seinesgleichen eins” sein. Im Rahmen dieses Konzeptes müssen auch die widersprüchlichen Kommentare Muraus zur deutschen Sprache und Literatur gelesen werden.
Die Trennung von der deutschen Gegenwart, sowie die heftige Romanophilie in der Auslöschung, die übrigens auch ihr Pendant in Hofmannsthals Rede hat, hat in Bernhards Text jedoch eine ganz besondere Dimension, die weder von Hofmannsthal noch von Borchardt vorhergesehen werden konnte, nämlich Auschwitz und die Möglichkeiten und Schwierigkeiten mit dem ‘Deutschen’ und der deutschen Sprache nach Auschwitz, findet sich doch der Nationalsozialismus, wie auch in dieser Arbeit mehrfach angeklungen ist, an prominenter Stelle im Herkunftskomplex der Auslöschung wieder.
4.5. Konservative Revolution
4.5.1. Abschenkung
Wie Borchardt erkennt Murau, daß es “einen weltweiten Verdummungsprozeß” (Aus 646) gibt und erklärt lakonisch, im Angesicht dieses unaufhaltsamen Prozesses gebe es nur die Möglichkeit, sich umzubringen. Dies schlägt zwar einen Bogen zu Muraus Auslöschungsfantasien, aber zeigt sich, im Rahmen der Konstruktion der Auslöschung, als rhetorische Figur. Murau ging, war er “unglücklicher als erträglich”, “[z]u den Gärtnern, […] nicht zu den Jägern” (Aus 191, Hervorhebung Bernhards). Auch in dem gerade beschriebenen Verzweiflungszustand ginge er, führte man diesen Denkvorgang fort, nicht zu den Jägern, die sich “durch ihre Vernichtungswut die Illusion verschaffen, Herren über Leben und Tod zu sein”, sondern zu den Gärtnern. Auslöschung bedeutet in der Auslöschung nicht Vernichtung, dafür gibt es kein Indiz. Am Ende des Romans verschenkt Murau Wolfsegg, ein folgerichtiges Ende in der Lesart der vorliegenden Arbeit, der Israelischen Kultusgemeinde in Wien (vgl. Aus 650f.). Es ist insofern folgerichtig, als daß Murau damit die starre Ordnung von Wolfsegg völlig auflöst, indem er sie abtrennt von dem Geschlecht und der Befehlsgewalt der alten Schlossherren, aber nicht zur Erreichung von Chaos oder Anarchie, sondern um Wolfsegg in eine andere Ordnung zu überführen, denn von der Schenkung ist ja nicht eine Privatperson betroffen, sondern eine ganze Gemeinde, die über ihre eigene Struktur und Ordnung verfügt. Ausgelöscht wird also nicht Wolfsegg im wörtlichen Sinne, sondern Wolfsegg im übertragenen Sinne, die Ordnung von Wolfsegg.
4.5.2. Zerstörung
Analog zum Wolfsegger Vorgang vollzöge sich auch -in der Theorie- die Konservativen Revolution in der Welt. “[N]ur eine tatsächlich grundlegende, elementare Revolution […] kann die Rettung sein” (Aus 146) schreibt Murau, eine “Reformation an Haupt und Gliedern” gewissermaßen. Murau, der nicht ähnlichen kleinbürgerlichen Hemmnissen ausgesetzt ist wie Borchardt, hat keine Scheu vor dem Begriff der Revolution, und auch keine Scheu davor, zu erklären, man müsse, ehrlicherweise, “die Welt […] ganz und gar radikal zuerst zerstören, beinahe bis auf nichts vernichten, um sie dann auf die [Murau] erträglich erscheinende Weise wieder herzustellen” (Aus 209). Dies mag, an der Oberfläche, kollidieren mit dem Element der Restauration, bzw. mit dem “‘konservativen’ Aspekt der Konservativen Revolution. Jedoch, wie man bereits an der angekündigten Auslöschung und ihrer tatsächlichen Abwicklung gemerkt hat, geht es Murau nicht um Vernichtung.
Der wichtigste Aspekt scheint mithin das “wieder herzustellen” sein und die Zerstörung hat ihren Gegenpart in Borchardts Postulat einer “politische Katastrophe der Welt”. 1983 kann Murau sich allerdings nicht auf den 2. Weltkrieg als Katastrophe besinnen, restaurative Handlungen zu Muraus Gegenwart fänden “erst nach der Schicksalsstunde und schon in der Stunde verfallenden Rechtes” statt und wären somit, ganz im Sinne Borchardts, sinn- und wirkungslos.
4.5.3. Führung
Sowohl Borchardt als auch Hofmannsthal betonen die Rolle des Führers, beide haben gewisse Einwände in mögliche Führerfiguren, wie Hofmannsthal sie skizziert. Die Notwendigkeit einer solchen Figur jedoch steht für beide außer Frage. Wie in der Betrachtung von Frost festgestellt wurde, scheitert dort die Führerfigur Strauch und die Schülerfigur des Famulanten hat keine Entwicklung hin zu einer solchen Figur durchgemacht. Das Problem könnte in einer zu starren Ordnungsstruktur liegen, einer “geistigen Abhängigkeit” zwischen Lehrer und Schüler. Von einer vergleichbaren Abhängigkeit kann in Auslöschung jedoch nicht die Rede sein. Ganz im Sinne des eins seins mit Sprache und Tradition gibt es hier eine “Identitätskette”, in der die Beteiligten “einander ihr Denken beeinflussen”.
Im Fall der Auslöschung ist Gambetti der “kommende[] Philosoph[] und Revolutionär” (Aus 209). Der Ausblick auf die Zukunft ist wichtig, weil, Analog zu Borchardt, sich die Gleichgesinnten erst sammeln müssen, denn “[w]ir sind jetzt eine geschwächte, tatsächlich geistlose österreichische Menschheit […] der das Grundlegende und Elementare gar nicht möglich ist” (Aus 146). Es ist eine Krise des österreichischen Geistes, dieser ist in der stetigen Gefahr der Verdummung.
Murau versucht, als Lehrer Gambettis, bei diesem den Hebel umzulegen, ihn auf den “Gegenweg” (Aus 147) zu bringen. Deshalb füttert er ihn mit Literatur, mit Jean Paul, Broch, Schopenhauer. Während Murau seine Phantasien, etwa die Herrichtung der Kindervilla, nie umsetzt, ist Gambetti “nicht nur der geborene Phantasierer, er ist auch der geborene Ausführer seiner Phantasien” (Aus 544). In Gambetti lebt die Hoffnung auf eine Konservative Revolution, wie sie Muraus skizziert, weiter. Das ist die entscheidende Volte, die Bernhards Werk zwischen Frost und der Auslöschung vollzogen hat. Der Frost ist am Ende des gleichnamigen Romans immer noch da, Strauch ist gestorben und der Famulant hat das Weite gesucht, ohne irgend ein Interesse, die Lage zu ändern. Der Frost in der Auslöschung, in Form der starren Strukturen Wolfseggs, ist durch die Abschenkung beseitigt und die entsprechende Schieflage der Welt, die sich “augenblicklich in einem chaotischen Zustand befindet, während in Wolfsegg die Ordnung herrscht” (Aus 369), soll durch Gambetti bereinigt werden. Es ist eine Utopie, die am Ende der Auslöschung steht, deren Möglichkeit in den Raum gestellt wird, ohne Hinweis auf Gambettis Handlungen nach dem Ableben von Murau und ohne Untersuchung des Ausmaßes der möglichen Selbsttäuschung des Ich-Erzählers Murau.
5. Schluss
“In welches Gespräch mischt sich dieser Monolog?” fragt Ingeborg Bachmann in einem unveröffentlichten Prosatext über das Frühwerk Thomas Bernhards. Die vorliegende Arbeit hat hoffentlich gezeigt, um welches Gespräch es sich, unter vielen anderen, Schopenhauer und Wittgenstein sind sicher die am häufigsten genannten Namen in der Forschungsliteratur, handeln könnte: ein Gespräch mit den Dichtern und Denkern der konservativen Revolution, insbesondere Hofmannsthal und Borchardt.
Mit Recht ist der Prozeß der Auslöschung und Zerstörung, der im Zentrum des komplexen letzten Romans steht, immer wieder auf Auschwitz bezogen worden, am prominentesten im Aufsatz von Irene Heidelberger-Leonard und umgekehrt Frost auf den Solipsismus in der literarischen Tradition, aber die vorliegende Arbeit hat hoffentlich eine weitere Lesart nahe gelegt, die man auch auf das restliche Werk Thomas Bernhards hätte ausdehnen können. Am Beispiel des ersten und letzten Romans jedoch konnte eine Entwicklung untersucht werden, die von Gesellschaftskritik in Frost, der dort noch keine positive Theorie entgegengesetzt werden konnte, hin zu einer voll entwickelten Auseinandersetzung mit der Konservativen Revolution in Auslöschung.
Die enorme Komplexität des Bernhardschen Werks bringt es jedoch mit sich, daß auch diese Lesart sehr selektiv vorging und das Thema eigentlich nach einer genaueren Studie verlangt, die hier aber, im beschränkten Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden konnte.
6. Bibliographie
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